63 Milliarden Euro kosten männliche Rollenstereotype und Geschlechterklischees allein Deutschland jedes Jahr, mindestens. Diese Zahl errechnet der Wirtschaftswissenschaftler und Männerberater Boris von Heesen in seinem Buch „Was Männer kosten – Der hohe Preis des Patriarchats“. Damit erweitert er die Diskussion um das Patriarchat erstmals um eine ökonomische Dimension.

Ein Gefängnisaufenthalt kostet 130€ am Tag, 94 % der Häftlinge sind Männer.  Jedes Jahr müssen 2,5 Millionen Polizeistunden bezahlt werden, um gewaltbereite männliche Fans bei Fußballspielen voneinander zu schützen.  Männer verursachen doppelt so viele Verkehrsunfälle wie Frauen und geraten viermal häufiger in den Strudel illegaler Drogen. Sie begehen fast 90% der schweren Diebstähle und knapp 77% aller Wirtschaftsstraftaten.

Diese Zahlen stehen für die unbeleuchtete Seite des Patriarchats. Männer sollen stark sein, sich durchsetzen und ihre Gefühle unterdrücken. „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Sei kein Weichei!“ oder „Reiß dich zusammen, du Warmduscher“. Noch heute prägen solche Sprüche die Lebenswelten von Jungen.

Wie stark sich diese Klischees messbar auf die Gesellschaft auswirken, zeigt von Heesen anhand von Daten, Fakten und vor allem Kosten. Er wirft einen tiefen Blick in die gesellschaftlichen und statistisch von Männern dominierten Schattenwelten: Gewalt, Straftaten, Verkehrsunfälle, Sucht, Suizide, Diskriminierung, Sexismus, Extremismus, etc.

Boris von Heesen geht es dabei nicht um Schuldzuweisungen. Im Gegenteil. Er zeigt an vielen Stellen, wie stark auch Männer unter dem Korsett des Patriarchats leiden. Und er gibt zahlreiche Impulse, wie wir die alte Ordnung der Rollenmuster umstoßen können.

Unser Referent für Grundsatzfragen im Bundesforum Männer, Karsten Kassner, hat die Veröffentlichung des Buches zum Anlass genommen, um mit Boris von Heesen ins Gespräch zu kommen.

Boris von Heesen: Zunächst beschäftige ich mich schon lange mit Geschlechterfragen. Deshalb war 1999 ein erstes Interesse geweckt, als ich als Geschäftsführer eines Drogenhilfeträgers festgestellt habe, dass männliche Süchtige (85%) Konsumräume viel häufiger frequentieren als weibliche (15%). Dann habe ich mir weitere Felder der Suchthilfe angeschaut, dann die Kriminalstatistik, die häusliche Gewalt, die Wirtschaftskriminalität, Verkehrsdelikte oder auch das Ernährungsverhalten. Die Erkenntnis war erstaunlich: Fast alle Bereiche, die gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Schäden nach sich ziehen, werden mit großem Abstand von Männern dominiert. Noch bemerkenswerter ist aber, dass kaum jemand über dieses Ungleichgewicht reden. Was sind die Ursachen? Wie können mögliche Lösungsstrategien aussehen? So ist dann 2019 die Erkenntnis gereift, über ein Buch Aufmerksamkeit auf die Schieflage zu lenken. Damit man mir auch zuhört, habe ich dafür die Sprache von Kapitalismus und Patriarchat gewählt: das Geld.

Insgesamt bin ich auf einen Betrag von 63,5 Mrd. € gekommen, die Männer an zusätzlichen Kosten verursachen. Der Schwerpunkt liegt mit über 40 Mrd. € eindeutig bei der Sucht. Männer konsumieren mehr Tabak und deutlich mehr Alkohol. Sie beherrschen die Felder der illegalen Drogen und auch der Glückspielsucht. Die Sucht strahlt zudem auf andere Bereiche wie die häusliche Gewalt oder den Bereich der Verkehrsdelikte ab.

Die von mir berücksichtigten Quellen sind ausschließlich die amtliche Statistik bzw. öffentlich zugängliche Kostendaten. Waren keine Zahlen verfügbar, wurden sie auch nicht in die Berechnung einbezogen. Die Wirtschaftskriminalität ist da ein gutes Beispiel. Basierend auf Daten des BKA verursachen Männer Mehrkosten in Höhe von 1,57 Mrd. €. Durch Männer verursachte Steuerhinterziehung oder Schäden durch Korruption habe ich nicht berücksichtigt, weil belastbare Daten fehlten. Das bedeutet, dass die wahren Kosten weitaus höher sind.

Das ist tatsächlich ein großes Rätsel. Screent man die täglichen Polizeinachrichten, dann sind im Schnitt in 9 von 10 Fällen Männer im Fokus. In der Berichterstattung darüber, aber auch als Privatpersonen, haben wir uns daran gewöhnt und hinterfragen dieses drastische Ungleichgewicht kaum. Die Gründe sind sicherlich vielschichtig. Eine mögliche These wäre, dass die Institutionen, die auf diesen Daten sitzen (BKA, KBA, DVR, Destatis) viele Jahre von Männern geleitet wurden und häufig noch geleitet werden. Deshalb besteht nicht unbedingt ein Interesse, einen konstruktiv-kritischen Blick auf das eigene Geschlecht zu werfen. Zum anderen hat es sicher mit den von dir erwähnten Normen zu tun, die diese Gesellschaft formen und prägen. Dazu gehört, dass Männer wild, laut, draufgängerisch sind und eben auch viel häufiger betrunken, gewalttätig, nötigend oder (im Falle der Wirtschaftskriminalität) betrügerisch. Und diese Normen werden viel zu selten hinterfragt. Das versuche ich aufzubrechen.

Die Reaktionen sind vielschichtig. In den meisten Fällen erfahre ich Zustimmung, verbunden mit der Frage, warum nicht schon viel früher jemand versucht hat, ungesundes männliches Verhalten zu monetarisieren, um Schäden sichtbar zu machen und daraus Lösungen abzuleiten. Es gibt aber auch kritische Stimmen, die sich am Titel des Buches stören. Die meisten kann ich überzeugen, wenn ich erläutere, dass dieses Buch vor allem für Männer geschrieben wurde und dass es nicht die Aufmerksamkeit bekommen hätten, wäre der Titel nicht so provozierend gewählt. Sehr wenige Menschen, und die weigern sich in der Regel die ersten fünf Seiten zu lesen, reagieren grundsätzlich ablehnend und wittern eine pauschale Diskreditierung der Männer. Dabei geht es mir gerade darum, dafür zu sensibilisieren, dass viele der erhobenen Daten ihre Quelle in ungesunden männlichen Geschlechterstereotypen haben und dass es sich vielfach lohnt, diese zu hinterfragen.

Es gibt drei Ebenen, die kurz-, mittel und langfristig zu einer Veränderung beitragen könnten. Zunächst plädiere ich dafür, dass Institutionen (z.B. BKA, KBA, DVR) ihre Statistiken regelmäßig und prominent geschlechtsspezifisch präsentieren. Erst wenn die Zahlen bekannt sind, kann auch ein Problem- und Lösungsbewusstsein geschaffen werden. Das kann sofort umgesetzt werden. Mittelfristig benötigen wir Angebote und Kampagnen, um Männer z.B. für ihr Verhalten im Straßenverkehr, die Folgen ihrer Ernährungsgewohnheiten oder ihre Zurückhaltung bei der Gesundheitsvorsorge zu sensibilisieren. Was viele Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, ist das Durchbrechen ungesunder Rollenstereotype. Sie verbannen Jungen wie Mädchen unnötig ein Leben lang auf die eine oder andere Seite der Autobahn der Geschlechter. Hier müssen Eltern ebenso sensibilisiert werden wie Fachkräfte in den sozialen und pädagogischen Berufen. Zudem braucht es ein systematisches Gegengewicht, um der Macht der Medien zu begegnen.

Gleichstellungsorientierte Männerpolitik bildet den Nährboden, damit all diese Veränderungen auch nachhaltig gelingen können. Sie klärt zudem darüber auf, dass es sich lohnt, sich auf den Weg zu machen, vermeintliche Privilegien abzugeben und sich auf Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit einzulassen. Ich spreche bewusst von vermeintlichen Privilegien. Betrachtet man die Privilegien (Status aufgrund von Lohnarbeit, Verantwortung in Wirtschaft und Verwaltung, weniger Aufgaben in Haushalt und Familie usw.) einmal genauer, dann verlieren sie an Bedeutung. Männer gewinnen viel, wenn sie sich auf das Projekt Gleichstellung einlassen: Intensivere Beziehungen zu ihren Kindern, mehr Anerkennung im sozialen Gefüge der Familie, eine bessere physische und psychische Gesundheit, Partnerschaften auf Augenhöhe und – ganz wichtig – eine Entmystifizierung des bisher alles überstrahlenden Berufslebens.

Ich erhoffe mir, dass mein Buch eine aufrichtige und konstruktive Debatte über das Ungleichgewicht der Geschlechter in solchen Lebensbereichen entfacht, deren Auswirkungen die Gesellschaft emotional und monetär belasten. Dafür müssen sich alle entspannen, alte Gräben schließen und allein auf die Fakten und deren Folgen schauen. Ich denke, dass allein eine solche Debatte den Prozess der Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit bereits befruchten würde. Dann würde ich es sehr begrüßen, wenn andere Autor:innen, Forscher:innen oder Publizist:innen meinen ersten Wurf aufgreifen und ungesundes Geschlechterveralten aufgrund von Rollenklischees weiter und breiter denken. Damit wäre schon viel erreicht.

Karsten Kassner ist Soziologe und Referent für Grundsatzfragen im Bundesforum Männer e.V.

Boris von Heesen (*1969) ist Wirtschaftswissenschafter mit ersten beruflichen Stationen bei der Diakonie in Bayern und der Drogenhilfe in Frankfurt am Main. Er ist Gründer eines der ersten deutschen Online-Marktforschungsinstitute. Heute arbeitet er als Männerberater und geschäftsführender Vorstand eines Jugendhilfeträgers. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich als Autor und Referent mit dem Thema kritische Männlichkeit und veröffentlichte bereits zwei erfolgreiche Bücher zum Thema.

Boris von Heesen
Was Männer kosten
Der hohe Preis des Patriarchats
Paperback, Klappenbroschur
304 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
ISBN 978-3-453-60624-1
€ 18,00 [D] / € 18,50 [A] / CHF 25,90
Heyne Taschenbuch

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